Dieser Beitrag ist am 26.03.2021 im Rahmen einer Bildungskonferenz der SPD als Vorbereitung politischer Forderungen von Christine Pluhar verschriftlicht worden.
Christine Pluhar ist eine liebe Kollegin, die die inklusive Bildung der letzten Jahrzehnte im Land Schleswig-Holstein initiiert, reformiert und beständig konkretisiert sowie reflektiert und hinterfragt hat. Sie ist Sonderpädagogin und war viele Jahre am Landesförderzentrum Sehen in Schleswig-Holstein tätig. Im Anschluss war sie bis zur Rente im Bildungsministerium für Sonderpädagogik, Integration und Inklusion zuständig. Sie kämpft über ihren Beruf hinaus bis heute für die Umsetzung der Inklusion auf allen Ebenen.
Sie ist meine persönliche Inspiration für das inklusive (Um-)Denken, für das Durchbrechen von Barrieren und zur persönlichen Reflexion. Ihr Beitrag zur inklusiven Bildung beschreibt meine persönliche Einstellung und Haltung zum Thema Inklusion, wie ich es besser nicht schreiben könnte.
Somit in aller Kürze:
Danke, Christine, für deinen immer währenden Einsatz für eine „Bildung für alle“ in einer inklusiven Gesellschaft.
Inklusive Bildung
von Christine Pluhar
Was verstehen wir unter Inklusiver Bildung?
Inklusive Bildung bedeutet, dass die Bildungssysteme eines Landes im Kindes-, Jugendlichen – und Erwachsenenalter alle Menschen umfassen und niemand ausschließen. So nimmt das Bildungssystem „KiTa“ oder Schule für Alle tatsächlich alle Schüler*innen des Wohnortes auf. Es ist auf Vielfalt eingestellt und schätzt sie. Es ist für jede Form von Diskriminierung sensibel, fördert alle Schüler:innen gemeinsam individuell und führt sie zu den bestmöglichen Abschlüssen (weiter Inklusionsbegriff). Besonderes Augenmerk und Verständnis brauchen dabei Kinder und Jugendliche, die arm sind, die einen Migrationshintergrund haben; Kinder mit einer Behinderung oder sonderpädagogischem Förderbedarf; Kinder von beruflich Reisenden; Kinder, die wegen ihres Glaubens, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden und Kinder und Jugendliche, die Gewalt und sexuellen Missbrauch erfahren haben, die Drogen konsumieren oder wohnungslos sind, die Schicksalsschläge erlitten haben und traumatisiert sind… Der weite Inklusionsbegriff schließt alle Kinder und Jugendlichen mit ein.
Inklusive Bildung im engeren Sinne meint: Alle KiTas und Schulen nehmen Kinder und Jugendliche mit Behinderungen bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf auf, unterstützen sie im gemeinsamen Spielen und Lernen, gehen auf ihre Bedürfnisse ein und helfen ihnen, den bestmöglichen Schulabschluss zu erreichen. Beide Inklusionsbegriffe sind keine Gegensätze, sondern sie ergänzen einander.
Warum Inklusive Bildung? Vier Argumente
- Die Staaten der Weltgemeinschaft haben sich auf universelle Bildungsziele geeinigt. Sie verpflichten sich zu einem inklusiven Schulsystem, in dem eine hochwertige Pädagogik für alle und besondere Vorkehrungen für Kinder mit Behinderungen ergriffen werden (Art. 24 der UN BRK). Die SPD in Schleswig-Holstein orientiert sich in ihrer Bildungspolitik an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und der UN-Kinderrechtskonvention von 1989. Diese Linie, nach der „alle Menschen an Würde und Rechten gleich“ sind, führt weiter zur Behindertenrechtskonvention (UN BRK) von 2006, die 2009 in Deutschland in Kraft trat. Dabei stellt Inklusion „die wesentliche Strategie zur Realisierung der Menschenrechte dar“ (Hinz, 2021). Diesen Gedanken greift die UN (2015) mit der „Agenda 2030 – Ziele für nachhaltige Entwicklung“ erneut auf. Ziel 4 beschreibt das Ziel nachhaltiger Bildung mit: „Inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern“.
- Ein immer inklusiver werdendes Bildungssystem hilft beim Erkennen und der Überwindung von Barrieren und fördert damit die gleichberechtigte Bildung und Teilhabe Aller. Es bildet das Fundament für eine menschenrechtsbasierte, demokratische Gesellschaft.
- Bei allen Weiterentwicklungen und Veränderungen der Bildungssysteme in den deutschen Ländern muss diese inklusive Zielsetzung aktiv verfolgt werden! Widersprüche im System sind dabei auszuhalten, wenn sie nicht in absehbarer Zeit beseitigt werden können: Siehe besonders den Widerspruch, ein inklusives Schulsystem in einem vertikal gegliederten zu errichten. In den Ländern sind diese Widersprüche immer wieder in den Blick zu nehmen, um Fortschritte zu erkennen und zu dokumentieren und sie, bei günstiger Gelegenheit, zu verändern.
- Aktuell in Corona-Zeiten sind die KiTas für Alle und die Schulen für Alle als Konzept und in der Praxis von besonderer Bedeutung. Quarantäne und Ausgrenzung, Einsamkeit und Ausgeliefertsein, Unsicherheit und familiäre Existenzängste haben sehr viele Kinder und Jugendliche ganz konkret erfahren. Es wird lange dauern, bis die Kinder und Jugendlichen diese Erfahrungen verarbeitet haben. Insbesondere die Kinder aus benachteiligten Verhältnissen werden dafür länger brauchen. Für sie kommt es darauf an, dass ihre Lehrkräfte sie verstehen, sie ermutigen, ihnen individuelle Angebote zum Lernen machen, die sie fordern, die sie aber auch bewältigen können und die ihnen Erfolgserlebnisse ermöglichen, um ihre Lernmotivation zu steigern. Die Kinder und Jugendlichen brauchen Sicherheit, Orientierung und Freude. So lange sie ihre sozialen Kontakte so umfassend einschränken müssen, sollen sie durch KiTas und Schulen gezielte Angebote erhalten, sich trotzdem wenigstens elektronisch einzubringen. Dazu müssen sie ausgestattet werden mit den notwenigen Medien und das erforderliche Know How vermittelt bekommen.